Melina Fuchs

Die leeren, weißen Wände stören Melina nicht im Geringsten. Damit hatte sie nicht gerechnet. Einen ganzen Tag lang hatte sie damit verbracht die Bilder aus ihrem nun alten Kinderzimmer unbeschadet abzunehmen. Sorgfältigst wurde von jedem Bild erst der Posterkleber mit einem Fön erwärmt, dann ganz langsam Ecke für Ecke das Papier von der Wand gelöst und schließlich mit einer Fusselrolle der restliche Kleber entfernt. Beim ersten Versuch hatte sie die Klebereste einfach mit dem Finger abgerieben, davon aber ganz schmierige Hände bekommen und am Ende das Bild verschmiert. Zum Glück war es nur eines der Bilder von Anna, einer alten Schulfreundin. Melina fragte sich ob sie vielleicht etwas arrogant war, aber ihre eigenen Bilder fand sie immer noch am schönsten. Sie und Anna waren damals unzertrennlich gewesen, sie teilte als einzige ihre Leidenschaft stundenlang dazusitzen und zu Malen. Jede Pause in der Schule und jeden Nachmittag hockten die beiden zusammen und zeichneten und malten um die Wette. Niemand sonst aus ihrer Klasse, auch niemand anderes den sie kannte, interessierte sich überhaupt nur für ihre Bilder. Im Gegenteil, Melinas Mutter beschwerte sich immer über die Verschwendung des ganzen Papiers. Man musste eben ab und zu mal wieder auf einem neuen Papier neu anfangen, wenn etwas nicht klappte, aber das verstand ihre Mutter nicht. Allerdings verstand sie dafür, dass man warmen Posterkleber ganz leicht mit einer Fusselrolle entfernen konnte und so wanderten die restlichen Bilder, die früher in Melinas altem Kinderzimmer hingen, unversehrt und sortiert zwischen zwei zusammengebundene Spanplatten. Zum Glück hatte sie mitbekommen, wie ihr Vater ihre Bilder eingerollt hatte und ein Gummiband darum spannen wollte. Mit Karton konnte man das vielleicht machen, aber Melina hatte alle ihre Bilder schon immer auf Papier gemalt und das bekommt nun einmal Dellen von dem festen Gummiband, abgesehen davon, dass man die leichte Rundung vom Einrollen des Papiers auch nur schwer wieder wegbekam. Und die Schrankrückwände, auch das war ein Einfall ihrer Mutter gewesen, mussten so oder so mit nach Berlin. Melina war heute dort hingezogen. Nach dem Abitur verbrachte sie die nötigen Wartesemester für ein Kunststudium in ihrer Lieblingsstadt mit einer Ausbildung in Floras‘ Floristerei um die Ecke. Zuerst startete sie etwas wiederwillig, mittlerweile aber nennt sie Sylvia, die Floristin, die sich nur wegen dem schönen Ladennamen von Ihren Kunden Flora nennen lässt, ihre Tante und die meisten Ihrer Bilder aus den letzten Jahren haben Blumen als Motiv. Über die nun abgeschlossene Ausbildung ist Melina mehr als froh, so kann sie nun neben dem Studium in Berlin, gar nicht schlecht bezahlt, in der Floristeria Sophia jobben. An den Namen wird sie sich wohl nie gewöhnen, aber auf den ersten Eindruck wirkte die Inhaberin, die ganz entgegen ihrer Erfahrung tatsächlich Sophia heißt, ganz nett. Ihre nun erste eigene Wohnung ist zwar leider im vierten Stock, aber dafür in der Nähe ihrer Universität. Die Straße ist leider sehr eng und heute Mittag von beiden Seiten zugeparkt gewesen. Zwischendurch musste während des Ausladens ab und zu mit anderen Autofahrern diskutiert werden, sodass diese zurückfuhren und auf eine andere Straße auswichen. Dazu war es gut, dass ihr Bruder beim Umzug mithalf und sich darum kümmerte. Sie selbst hätte sicher jedes Mal klein beigegeben, wäre mit dem Wagen weg und einmal um den Block gefahren und alles hätte noch länger gedauert. Morgens hatten sie das Auto und den Anhänger, den ihr Vater eigentlich für den Transport von Scheitholz für den Holzofen in der Wohnung ihres nun alten Zuhauses nutzte, bei Regen beladen müssen. Ein Holzofen brachte, im Vergleich zu mit Warmwasser betriebenen Heizkörpern, mit denen sie nun Vorlieb nehmen musste, eine so viel angenehmere Wärme ins Haus. Mit dem Beil im Winter Scheite zu zerkleinern würde sie zwar nicht vermissen, aber sich morgens auf die noch vom Vorabend warmen Ofenkacheln zu setzten – dieser Gedanke löste in Melina schon jetzt eine leichte Sehnsucht und Heimweh aus. Nach der zweistündigen Fahrt regnete es beim Ausladen zwar nicht mehr, aber da die Wohnung im vierten Stock lag wurde man nach kürzester Zeit trotzdem pitschnass vor Schweiß. Jetzt ist Melina allein in ihrer neuen Wohnung, starrt auf ihre frisch gestrichenen Wände und wundert sich. Gestern noch fand sie den Gedanken in einer leeren, kalt und leblos wirkenden Wohnung auch nur eine Nacht verbringen zu müssen unvorstellbar. Sie würde sofort alle Möbel aufbauen, gleich alle Schränke und Regale befüllen und auf jeden Fall alle ihre Bilder in der ganzen Wohnung verteilen müssen, hatte sie gedacht. Nun jedoch sitzt sie auf dem Boden von ihrem, so hatte sie sich das ausgedacht, neuen Schlafzimmer, die Bilder lehnen zwei Räume weiter noch zwischen den Spanplatten eingeklemmt an der Küchenzeile und die leeren, weißen Wände stören Melina nicht im Geringsten. Damit hatte sie nicht gerechnet.